ARTIKEL

Die Funktionen überwinden - Warum sollte sich ein CEO um Lebenszyklen kümmern?

Jul 23, 2021
23/7/2021
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Dr. Thomas Kamps
CEO CONWEAVER GmbH

(Die Originalversion dieses Artikels wurde auf LinkedIn veröffentlicht.)

In John Starks Roman Products2019 [1] geht es um einen CEO, Dr. Bender, der ein hypothetisches Maschinenbauunternehmen - einen deutschen Mittelständler mit etwa 5.000 MitarbeiterInnen und Produktionsstätten in Deutschland, Frankreich und den USA - übernimmt. Er will wissen, was mit dem Produkt vom Anfang bis zum Ende passiert und stellt die englische MBA-Studentin Jane, die Hauptfigur der Geschichte, ein, um das herauszufinden. Jane führt in den verschiedenen Werken mehr als hundert Interviews mit verschiedenen Managern in unterschiedlichen Unternehmensfunktionen durch. Sie setzt Abstraktionstechniken ein, um die schiere Menge an Informationen zu verarbeiten und die Komplexität des Unternehmens widerzuspiegeln. Das Bild des Produktlebenszyklus wird immer verständlicher, je tiefer sie in die Organisation eindringt. Jane identifiziert Prozesse, Aktivitäten, Quality Gates, Probleme und Dokumentation über Standorte und Funktionen hinweg. Als Ergebnis ihrer Analyse stellt sie strukturelle Ähnlichkeiten der Prozesse auf der obersten Ebene an verschiedenen Standorten und eine größere Vielfalt auf der unteren Ebene der Prozesse fest. Ein wesentliches Resultat ihrer Untersuchung ist, dass Dr. Bender beschließt, einen Chief Product Officer (CPO) zu installieren, "[...] mit der Verantwortung für eine 5-Jahres-Vision, Strategie und einen Plan für alles, was mit Produkten zu tun hat [...]", an den alle Produktmanager der verschiedenen Standorte berichten.

In diesem hypothetischen Szenario sieht der CEO den Produktlebenszyklus, den Kerngeschäftsprozess, als wesentliche Quelle der Wertschöpfung, die es zu maximieren gilt. Er versucht, die Prozesse effizienter zu gestalten, und dazu muss er zunächst Transparenz schaffen. Dies ist keine triviale Aufgabe, denn es gibt einen großen Stolperstein. Das Unternehmen ist in verschiedene Tochtergesellschaften mit unterschiedlichen Produkten, Märkten und Kulturen aufgeteilt und gleichzeitig durch eine funktionale Unternehmensstruktur organisiert. Es ist bekannt, dass funktionale Unternehmensstrukturen naturgemäß zu einer Abgrenzung der Bereiche führen. Das ist an und für sich nicht schlecht. Im Gegenteil, es ist sogar notwendig, damit sich vertikale, spezialisierte Strukturen entwickeln können. Ein negativer Nebeneffekt ist jedoch, dass dadurch sowohl Entscheidungs- als auch Datensilos entstehen, die anderen Funktionen entlang der Wertschöpfungskette nicht adäquat zur Verfügung stehen. Die Folge solcher Silostrukturen ist, dass übergreifende Prozesse intransparent und schwer nachvollziehbar werden, wie wir in diesem schön geschriebenen Roman von John Stark sehen können, dessen Lektüre ich an dieser Stelle empfehlen möchte. Der Roman wird mittlerweile von einigen Universitäten in Kanada und den Vereinigten Staaten als Lehrmaterial verwendet (siehe [1]).

Der Produktlebenszyklus aus der Sicht der Unternehmensentwicklung

Betrachtet man den Produktlebenszyklus aus der Sicht der Unternehmensentwicklung/des strategischen Marketings, wie es Theodore Levitt in seinem Harvard Business Report von 1965 "Exploit the Product Lifecycle" [2] getan hat, scheint es offensichtlich, wie er den Produktlebenszyklus in einen Managementansatz für die Wettbewerbsfähigkeit verwandelt. Er sagt: "Nichts scheint mehr Zeit in Anspruch zu nehmen, mehr Geld zu kosten, mehr Fallstricke mit sich zu bringen, mehr Ängste zu verursachen oder mehr Karrieren zu zerstören als aufrichtige und gut durchdachte neue Produktprogramme.". Letzteres ist natürlich das, worum es bei der Produktplanung gehen muss. Daher ist er davon überzeugt, dass ein kontrollierter Produktlebenszyklus "[...] eine große Hilfe bei der Entwicklung einer geordneten Reihe von Wettbewerbsvorstößen, bei der Ausweitung oder Verlängerung der Lebensdauer eines Produkts, bei der Aufrechterhaltung einer sauberen Produktlinie und bei der gezielten Ausmusterung sterbender und kostspieliger alter Produkte sein kann.". Er fährt fort und erklärt, dass "[...] es diese Idee der Vorausplanung vor der eigentlichen Einführung eines neuen Produkts ist, um später in seinem Lebenszyklus spezifische Maßnahmen zu ergreifen - Maßnahmen, die darauf abzielen, sein Wachstum und seine Rentabilität aufrechtzuerhalten - die ein großes Potenzial als Instrument der langfristigen Produktstrategie zu haben scheint.".

Die Synthese zwischen John Stark und Theodore Levitt

Wie passen John Starks Analyse des Produktlebenszyklus und Theodore Levitts Forderung nach einem frontgeladenen, geplanten Prozess zusammen? Ich denke, beide teilen die Auffassung, dass der Produktlebenszyklus ein ganzheitlicher, übergreifender Prozess ist, der - wenn er gut gemanagt wird - zu einer erheblichen Wertschöpfung führen kann.  Aus diesem Grund beschließt Dr. Bender, eine CPO-Rolle als zentralen, ganzheitlichen Prozessverantwortlichen in der Organisation zu etablieren. Denn nur so können die auf lokaler Ebene unternommenen Anstrengungen zu einer neuen Qualität der Wertschöpfung führen, die Voraussetzung für eine Steigerung der unternehmerischen Exzellenz ist. Die Sicherstellung der Steigerung des Unternehmenswertes ist die Aufgabe des CEOs. Dies ist auch der Grund, warum in den letzten Jahren Rollen wie Chief Digital Officer (CDO) oder Chief Technology Officer (CTO) und ähnliche Rollen entstanden sind. Sie beruhen auf der Einsicht der CEOs, dass die siloartige Welt überwunden werden muss. Solche Entscheidungen zielen darauf ab, ein Gleichgewicht zwischen der horizontalen Lebenszyklus- und der vertikalen Funktionsstruktur herzustellen.

Abbildung: Strukturelle (horizontale) Organisation vs. prozessuale (vertikale) Organisation in Anlehnung an die Darstellung von Andy Helming in [3], Hochschule München

Da bereits funktionale Strukturen bestehen, muss der Schwerpunkt auf die Stärkung der Prozesse gelegt werden. Hier ist Effizienz eine echte Herausforderung, da die organisatorischen Silos gleichzeitig ihre ganz eigenen Datensilos produzieren und somit Daten für die Rollen unterhalb der Wertschöpfungskette nicht verfügbar sind. Dies wiederum zieht Anforderungen an die Unterstützung durch IT-Technologie nach sich. Bisher sind diese vor allem auf Autorensysteme für verschiedene Unternehmensfunktionen und Prozesse innerhalb dieser Funktionen ausgerichtet, die IT-Unterstützung benötigen.

Aktuelle IT-Technologie unterstützt nicht die Funktionsüberschreitung

Product Lifecycle Management (PLM) wurde ursprünglich als ganzheitlicher Ansatz definiert, hat sich aber bisher leider im Wesentlichen auf die Bearbeitung von Aufgaben des Produktdatenmanagements (PDM) beschränkt. IT-Anbieter bieten einen regelrechten Wust an Tools für jede funktionale Aktivität an, doch die ganzheitliche Verknüpfung des Produktlebenszyklus fehlt nach wie vor weitgehend. Die Erfahrungen mit KI zeigen auch, dass diese leistungsstarken Techniken nur bei der Lösung spezifisch lokalisierter Probleme helfen. Die Schlussfolgerung ist, dass die bisherigen Technologien diesen Transzendenzprozess nicht unterstützen. Daher behindern sie diesen unvermeidlichen Wandel. Der Hauptgrund für dieses Manko ist nicht, wie einige der großen IT-Anbieter behaupten, eine einheitliche Datenlandschaft, wie sie ein einziger Anbieter liefert, sondern eine fehlende Abstraktionsschicht in der IT-Landschaft. Dabei handelt es sich um eine Schicht, die die Daten der Autorensysteme über den gesamten Prozess hinweg miteinander verbindet. Knowledge Graphen sind ein nativer Weg, dies zu tun, da mathematische Graphen auf natürliche Weise strukturelle Informationen darstellen. Im Falle des Produktlebenszyklus können Graphen sehr gut die Reise darstellen, die ein Produkt vom Anfang bis zum Ende durchläuft. Bei Conweaver sehen wir einen Knowledge Graph als Repräsentation für den Digitalen Zwilling (siehe https://www.linkedin.com/pulse/digital-twin-knowledge-sub-graph-thomas-kamps/). Dabei handelt es sich um eine technische Umsetzung dessen, was Dr. Bender in Products2019 vorschwebte. Hätte Jane ein solches Instrument zur Verfügung gestanden, wären ihre Recherchen erheblich erleichtert worden und ihre Arbeit hätte eine adäquate Form der Dokumentation gefunden, aus der bei Bedarf aktuelle Swim-Lane-Charts berechnet werden könnten.

Ähnliche Lebenszyklus-Herausforderungen im Bankensektor

Neben dem Produktlebenszyklus gibt es auch andere Arten von Lebenszyklen und Digitalen Zwillingen, z. B. solche, die die Vermögenswerte im Falle von Maschinen in Produktionsstätten, die Software oder den Datenlebenszyklus darstellen, für die der CDO verantwortlich ist. Die Lebenszyklen variieren in ihrer Komplexität je nach Branche. In der diskreten Fertigungsindustrie ist der Produktlebenszyklus typischerweise komplex - deshalb wurde PLM hier erfunden. In der Finanzbranche ist der Kundenlebenszyklus komplex. Größere Finanzinstitute unterhalten oft eine ganze Reihe von CRM-Systemen, die in ihrem Fall zu verschiedenen Tochtergesellschaften und in verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Regeln und Compliance-Vorschriften gehören können. Für sie ist "know your customer" (kyc) eine Herausforderung, da die Daten nicht miteinander verbunden sind, was Aufgaben wie die Betrugserkennung vergleichsweise schwierig macht. Auch sie haben versucht, KI-Techniken einzusetzen, aber wie bei vielen anderen Beispielen in der Fertigungsindustrie hat sich gezeigt, dass Algorithmen für maschinelles Lernen nur so gut wie ihr Input sind. Das kyc-Problem lässt sich nicht ohne Datenverbindung zwischen den CRM-Systemen lösen. Eine gemeinsame Verbesserung, sowohl für die Herausforderungen in der Fertigungs- als auch in der Finanzwelt, wäre die Schaffung von Synergien durch die Kombination struktureller Intelligenz in Form von Graphen mit der analytischen Intelligenz des maschinellen Lernens.

Schlussfolgerung

Ich bin davon überzeugt, dass der zunehmenden Komplexität, der größere Organisationen ausgesetzt sind, mit einem wesentlich stärkeren Fokus auf die Steigerung der Effizienz von Prozessen begegnet werden sollte, d.h. das Verhältnis von Ressourcen zu Output muss maximiert werden. Dies kann von der IT durch die Anwendung von Graphen- und KI-Techniken als Grundlage der Digitalisierungsstrategien von Unternehmen unterstützt werden. Letztere zielen darauf ab, die Automatisierung von Prozessen zu verbessern, indem sie die benötigten Informationen an jede Rolle in der betrieblichen Wertschöpfungskette liefern. Gleichzeitig ermöglichen sie sogar neue Geschäftsmodelle, die auf einem geregelten Datenlebenszyklus basieren. Beides sind gute Gründe für den CEO, sich darum zu kümmern.

[1] Stark, John: "Products2019: A project to map and blueprint the flow and management of products across the product lifecycle", ISBN 979-8664168440

[2] Levitt, Theodore: Harvard Business Review, "Exploit the Product Lifecycle", November 1965, https://hbr.org/1965/11/exploit-the-product-life-cycle

[3] Helming, Andy: Funktionale vs Prozessorientierte Orgnisation, https://ipl-mag.de/ipl-magazin-rubriken/scm-fachbericht/434-funktionale-vs-prozessorientierte-organisation-

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